Goethe. Geschichte eines Menschen

 

 

Erstausgabe: Emil Ludwig. Goethe: Geschichte eines Menschen. Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta, 1920.

Übersetzungen: Englisch (1928), Finnisch (1927), Französisch (1929), Italienisch (1932), Niederländisch (1931), Portugiesisch (1940), Russisch (1965), Spanisch (1932), Tschechisch (1932), Ungarisch (1928).

 

 

Die Biographie zu Goethe schrieb Emil Ludwig zu einer Zeit, in der er sich von Revolutionen und Machtkämpfen innerhalb Europas im Februar 1919 zurückzog. Besonders Goethes »großartige Übersicht« als Mensch, die realistisches Denken mit idealistischem Handeln verband, beeindruckte Ludwig. Dementsprechend deklariert er Goethe in seinem Vorwort als ein Vorbild des Herzens, dessen Grundsätze für das eigene Handeln eine herausragende Funktion darstellen würden. Aus Ludwigs Sicht vereinte Goethe die Grundkonstanten sozialen Zusammenlebens, bestehend aus Geist und Macht. Die fehlende Verbindung zwischen diesen Bereichen war laut Ludwig mit ausschlaggebend für den Ausbruch beider Weltkriege. Um die Quintessenz Goethes, die sich in der Gesamtheit seiner Werke vereint, verstehen zu können, sei es daraus folgend unabdingbar, sein Leben in den Kontext seiner Produktionsjahre zu stellen und sich seiner Gefühle sowie Lebensumstände bewusst zu werden. Das Genie und die Menschlichkeit, die Goethe verkörperte, sollten den Menschen als Orientierung dienen. Dementsprechend hielt Ludwig seinen eigenen Bewusstwerdungsprozess fest und spiegelte Goethes Leben gebündelt in seiner Biographie wieder. Diese gibt Einblick in Goethes Gedankenwelt, in der sich leidenschaftlicher Genius und der Kampf mit den eigenen »inneren Dämonen« gegenüberstanden, und die Distanz und Nähe zu ihm wichtigen Persönlichkeiten sein literarisches Werk prägten.

Die Biographie setzt sich aus drei Büchern zusammen (Genius und Dämon; Erdgeist; Tragischer Sieg), die sich wiederum in mehrere Kapitel gliedern. Der Titel der Bücher sowie der einzelnen Kapitel geben Aufschluss über prägende Phasen, Ereignisse oder Gefühle Goethes und sind dahingehend sinnbildlich für seinen literarischen Schaffensprozess.

Im ersten Buch, Genius und Dämon, steht der innere bzw. seelische Kampf Goethes zwischen dem leidenschaftlichen Genius und seinen inneren Dämonen im Fokus. Diesen prägenden Zwiespalt analysiert Ludwig in der jungen Vita Goethes in Bezug auf sein literarisches Werk. Ludwigs Bild von Goethe entspricht der eines Visionärs mit überragendem Intellekt, der alle Gefühlsausdrücke in sich vereine. Er verbindet seine Gedanken, Gefühle und künstlerische Entstehungsgeschichte zu einer synthetischen Einheit, die sich an der Lebenserfahrung Goethes begründet. Einen großen Teil des literarischen Schaffens von Goethe schreibt Ludwig dessen komplizierter Beziehungen zu Frauen (Friederike Brion, Charlotte Buff, Gräfin Stolberg) und einem daraus resultierenden Einsamkeitsgefühl zu. Sein Eros und seine Leidenschaft erfahre immer wieder Enttäuschungen, die er künstlerisch zu verarbeiten suche, was letztlich beispielsweise im Werther gipfeln würde. Sein Zusammentreffen mit Herder in Leipzig erweckt die Urkraft den Genius und den Naturbezug in Goethe und ist grundlegend für die Entstehung des Götz sowie des Werthers und Goethes damit verbundenen Wandel zum Stürmer und Dränger. Bekanntheit in Folge des literarischen Erfolgs ermöglichen ihm den Kontakt zu anderen Größen seiner Zeit (Lessing, Klopstock, etc.), zudem findet er eine tiefe Bestätigung seines künstlerischen Schaffens. Gleichzeitig hat er jedoch mit den negativen Folgen der Bekanntheit zu kämpfen, sodass Schwermut und Heiterkeit einander beständig abwechseln. Der freundschaftliche Umgang und Streitereien mit anderen Dichtern, die Arbeit als Minister, die Beziehung zu Herzog Carl August und Charlotte von Stein prägen den weiteren Verlauf seiner jungen Jahre. Sich dem Wunsche nach Freiheit und Dichtung bewusst werdend, flieht Goethe schließlich vor Freunden, Pflicht und der platonisch fesselnden Liebe zu Charlotte von Stein nach Italien.

Im zweiten Buch, Erdgeist, startet mit Italien für Goethe ein neuer Lebensabschnitt. Als Lernender verinnerlicht er die neuen Lebenseindrücke und entwickelt sich in der neu gewonnenen Freiheit vom Jüngling zum Manne. Mit seiner Rückkehr nach Weimar setzt er seinen Schwerpunkt auf Forschung und Ästhetik, bleiben seine Werke doch aufgrund des Erfolges von Schiller zunächst unbeachtet. Besonders Goethes zwischenmenschliches Leben, stark geprägt durch seine Ehe mit Christiane Vulpius, greift Ludwig verstärkt auf. Vor allem der Bezug Goethes zu Schiller wird immer wieder deutlich. Goethe gewinnt durch Schiller einen »genialen Zuhörer«, aber auch einen Kritiker, der durch die Würdigung von Goethes Dramen seine eigenen verurteilen würde. Die Beziehung zueinander ist zwischenzeitlich von Eifersucht und Sühne geprägt. Ebenso wird Herder gerade in den letzten Jahren als »reiner, stiller Geistesfreund« Goethes beschrieben.

Ludwig beschreibt im zweiten Buch die Mitte des Lebens Goethe. Er ist am Anfang als Jüngling, der sich zur Selbstbesinnung gemahnt hat, charakterisiert, mit Mitte 30 hat es ihn in die staatliche Pflicht gezogen aus dem zehn Jahre später ein abenteuerlicher Reisender wurde, der mit fünfzig Jahren zum sesshaften Bürger mit Familie wurde. Goethe schreibt in einem Brief »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«. Im Zusammenhang mit den Taten und Handlungen Goethes zeigt dieses Zitat laut Ludwig einen Realismus, der sich aus den wilden Zeiten vorher entwickelt hat, auf.

Im dritten Buch, Tragischer Sieg, beschreibt Ludwig Goethes fortgeschrittenes Leben und sein Werk zu Zeiten des Lebensendes. Er geht auf den Wandel seiner Arbeit von der Auflösung der Persönlichkeit ins Allgemeine. Generell wird der Konflikt Goethes mit seinen Charaktereigenschaften und Unterschiedlichkeiten beschrieben. Ludwig beschreibt den Wesenszustand des 73jährigen Goethe als einen Kampf des Dichters mit dem Denker. Dies soll als Gleichnis seiner polaren Natur dienen. Daraus resultiert, dass für den Betrachter Forschung, Dichtung und Glaube miteinander verschmelzen und nicht wie in seinem vorherigen Schaffen voneinander abzugrenzen sind. Diese Allgemein-Gefühle ziehen sich durch seine letzten Werke, zu denen besonders der zweite Faust-Teil zählt. Gegen Ende seines Lebens entwickelt sich immer mehr sein konventioneller Geist, laut Ludwig. Dieser kann als Bekenntnis zur Macht verstanden werden. Außerdem wird die politische Wandlung Goethes von Jemanden, der sich anfangs zu freieren Formen der Staatsführung bekannt hat, dann jene große Doppelstellung für und gegen die Revolution eingenommen hat, später aus Erfahrung gegen Volksvertretungen gesprochen hat, zu Jemandem, der jetzt auch dies verallgemeinert und verehrt nun am Ende jegliche Macht, mag sie von Gott, von Vätern oder sich selbst gesetzt sein.

Am Ende seines Lebens sieht Goethe sein gelebtes Leben als Geschenk an und schläft friedlich ein. Zusammenfassend beschreibt Ludwig Goethe als einen Menschen mit einem schwer enträtselbaren Bild seiner Seele. Goethe wird durchweg in seinen verschiedenen Facetten, vom Denker bis Dichter, dargestellt. Er wandelt sich vom aufbrausenden Jüngling des Sturm und Drangs, der seine eigene Seele gestalten will, zum entsagten Greis, der nur noch allgemein wirken möchte.

 

Janneke Bruns, Sebastian Schmidke