Justus Möser

Von der Neigung der Menschen, eher das Gute als das Böse von andern zu glauben

 

 

Die Neigung der Menschen, eher das Böse als das Gute von andern zu glauben, ist unlängst sehr angefochten, und als eine Tochter des Stolzes und des Neides verabscheuet worden. Unsere Großmütter dachten aber ganz anders, als z. E. wenn ein lediges Frauenzimmer auf öffentlichen Plätzen allein spatzierte: so glaubten sie gleich, es geschähe um ein gutes Ebentheuer zu suchen. Gieng sie mit einer Mannsperson allein, so hieß es: die Vögel zögen zu Neste. Gieng einer mit schlechten Leuten um: so hatte gleich und gleich sich gesellet; machte ein Bedienter oder eine Bedientin zu großen Aufwand: so gieng das nicht von rechten Dingen zu, der Mann muste Rips Raps und die Frau sonst was gemacht haben. Kurz, sie legten jeden zweydeutigen Schein böse aus, glaubten, daß alle, die sich einer Versuchung freywillig blos stelleten, leicht darin umkämen, und dachten, Gelegenheit mache Diebe. Durch diese practische Maximen nöthigten sie sowol junge als alte nicht allein allen bösen Schein, sondern auch alle Versuchung und Gelegenheit zu fliehen.

Der Rechtsgelehrte hält jeden für einen ehrlichen Mann bis das Gegentheil erwiesen ist. Dies gilt von äusserlichen Handlungen, welche der Richter zu bestrafen hat. Die Sittenlehre hält alle Menschen für arme Sünder, um sie zu nöthigen, durch eine beständige Thätigkeit in guten Handlungen zum allgemeinen Besten das Gegentheil zu zeigen. Er sieht einen ruhigen Mann für faul, einen unglücklichen für schuldig, einen Bettler für diebisch, und eine zu freye Person für liederlich an, um die gegenseitigen Tugenden so viel eher zu erzwingen.