Zu ihr hin
will ich gehen; ihr sagen, daß sie die niederträchtigste Creatur von der Welt
sey; daß sie das edelste und zärtlichste Vertrauen gemißbraucht, und mich auf
eine recht schändliche Art hintergangen habe. Ja dies will ich thun; diese
Genugthuung will ich haben. Ich will sie in ihren eignen Augen erniedrigen, ihr
den verrätherischen Brief vorlegen, und sie dann ihrer Schaam und den Bissen
ihres Gewissens überlassen …..
Und
wenn Sie das denn nun gethan haben Madame?
So
bin ich gerochen.
Gerochen?
und wodurch? Dadurch, daß sie ihre ganze Schwäche zeigen? Das ist in der That
eine sonderbare Rache. O meine liebe Ißmene; sollten sie mich je beleidigen; so
glauben Sie nicht, daß ich es Ihnen so leicht machen werde mich zu vergessen
und sich zu beruhigen.
Also
sollte ich es mir wohl gar nicht einmal merken lassen, Arist, daß ich so
schändlich hintergangen bin?
Nein, Ißmene. Ihr Eyfer mag noch so
gerecht; das Ihnen wiederfahrne Unrecht mag noch so klar seyn: so muß es der
letzte Schritt unter allen seyn, seinem Freunde wissen zu lassen, daß man von
seiner uns zugefügten Beleidigung unterrichtet sey. Nie kann dieser uns hernach
wieder unter die Augen treten, ohne sich zu schämen: und wer sich vor uns zu
schämen hat, der flieht uns erst, haßt uns leicht, und verfolgt uns zuletzt, um
sich eines beschwerlichen Zeugens seiner Unwürdigkeit zu entledigen.
Aber
wenn mir nun der Haß und die größte Freindschaft einer solchen Person als
diejenige ist, worüber ich mich beklage, angenehmer wäre als alle die
Freundschaft, welche sie mir ehedem gezeigt hat?
Das
ist nicht möglich. Eine Person, welche Sie einmal werthgeschätzt haben, kann
nicht ohne alle Verdienste seyn. Sie muß werth seyn gebessert und
wiedergewonnen zu werden; und das können Sie nie hoffen, wenn Sie ihr einmal
gerechte Vorwürfe gemacht haben. Falsche Vorwürfe treffen flach; aber wahre
fassen tief, und man vergißt sie um so viel weniger, je mehr man sie verdient
hat. Sie benehmen dem Schuldigen seinen Werth; und diejenige redliche
Zuversicht, welche doch zum wahren Vertrauen und zu einer aufrichtigen
Freundschaft unentbehrlich ist. Erinnern Sie sich nur einmal ihrer Geschichte mit
Cephisen. Diese ihnen jetzt so werthe Freundin hatte Ihnen fälschlich ein
Verbrechen Schuld gegeben, welches man niemals erweiset, und allezeit ohne
Beweis glaubt. Sie hörten es und beruhigten sich damit, daß es aus Eyfersucht
geschehen seyn könnte. Sie veränderten nichts in ihrem Betragen gegen sie. Sie
bezeugten ihr immer das zärtliche Vertrauen; die nemliche Achtung und eben die
Gefälligkeiten, welche Sie allezeit gegen sie gehabt hatten. Keine
Zurückhaltung, kein Ernst im Blicke verrieth die mindeste Empfindlichkeit. Kaum
waren einige Wochen verflossen; so gereuete Cephisen ihre Verläumdung. Sie ward
unruhig, und das Bekenntniß ihres Verbrechens schwebte ihr hundertmal auf der
Zunge, ohne daß sie es wagen mochte um Verzeihung zu bitten. Von der edelsten
Reue gerührt, kam sie endlich in Gesellschaft derjenigen Personen, gegen welche
sie mit der falschen Beschuldigung herausgegangen war, zu ihnen, und that Ihnen
unter tausend Thränen gleichsam eine öffentliche Erklärung. Damals gestanden
Sie mir, Ißmene, daß Sie sich keinen Begriff von einer edlern Genugthuung
machen könnten, als diese gewesen wäre. Ihre Zärtlichkeit für Cephisen
verdoppelte sich, und dasjenige was unter andern die größte Freindschaft
veranlasset haben würde, ist der Grund einer der dauerhaftesten Freundschaft
geworden. Würde aber der Erfolg eben so angenehm gewesen seyn, wenn sie ihre
Freundin gleich zur Rede gestellet; derselben ihre Verläumdung vorgeworfen, und
sie damit auf ewig ihrer Schande überlassen hätten? Würde die Reue Cephisens jemals
zugereicht haben, eine völlige Versöhnung unter ihnen herzustellen? Und war
nicht gleichsam ihr heroischer und freywilliger Entschluß nöthig, um ihr ein
Vertrauen zu sich selbst, und mit diesem die Würde wieder zu geben, sich als
eine Freundin in ihre Arme werfen zu können?
Es
ist wahr, Arist, ich fühle die Wahrheit dessen was sie sagen: und bin nun zu
groß um in Vorwürfe auszubrechen.
Glauben
Sie nur, liebenswürdigste Freundin, der Unschuldige verzeihet leicht. Aber der
Schuldige kann nie wieder ein Herz zu uns gewinnen, wofern wir ihm nicht helfen
sich vor dem Richterstuhl seines eignen Gewissens zu rechtfertigen, und erst
wiederum ein Vertrauen zu sich selbst zu gewinnen. Die Gelegenheit dazu können
wir ihm nicht besser unterlegen, als wenn wir ihn zuerst in der guten Meinung
lassen, daß wir sein Verbrechen nicht wissen. Hierdurch wird er allmählich
sicher; bemüht sich erst etwas wieder gut zu machen, wird immer eifriger, und
zuletzt, nachdem er uns viele neue Beweise von seiner Redlichkeit gegeben, wagt
er es, Verzeihung für das vergangene zu erwarten und zu bitten. Ehender kann er
es nicht thun, ohne sich in seinen eignen Gedanken zu erniedrigen. Es fehlt ihm
auch die Gelegenheit zu jener Rechtfertigung, wofern wir ihn gleich durch
verdiente Vorwürfe beschämen und entfernen.
Dies wird aber doch wohl nur die Pflicht gegen solche schuldige Freunde seyn, die würklich Verdienste haben?
Freylich;
aber selten ist ein Mensch ohne einige Verdiensten; und man kann auch oft einen
Bösewicht auf kurze Zeit oder in einzelnen Geschäften ehrlich machen, wenn man
ihn für ehrlich hält, und Vertrauen auf ihn setzt. Es gereicht der Tugend zur
Ehre, daß auch der böseste Mensch denjenigen ungern hintergehet, der ihm für
einen rechtschaffenen Mann hält. Glauben Sie, Ismene, daß ich nicht bisweilen
in die Versuchung gerathen würde, Ihnen ungetreu zu werden, wenn ich versichert
wäre, daß Sie ein Mißtrauen in mich setzten?
O schweigen Sie, Arist; oder ihre Gründe fangen an bey mir allen ihren Werth zu verlieren.