Nicht weit von der Burg zu Holte wohnten vor lieben langen
Jahren ein Paar frommer Hausleute, welche den edlen Herrn daselbst für ihren
gnädigen Gutsherrn erkannten und ihm, so wie es das Herkommen mit sich
brachte, genau und redlich dienten. Ihre einzige Tochter, ein frisches,
schlankes Mädgen, hatte ihresgleichen unter allen zu dieser Burg gehörigen
Leuten nicht, und wenn sie jährlich auf der Hofsprache1), welche die Herrschaft damals noch
mit ihrer Gegenwart zu beehren pflegte, tanzte, so hätte man schwören sollen,
es sei niemals ein Holzschuh an ihre Füße gekommen. Ihre Stimme war so rein und
klingend, daß man es allemal auf der Burg hören konnte, wenn sie unten im
Sundern2) mit
den Nachtigallen wetteiferte; und die Hausarbeit ging ihr so leicht von der
Hand, daß der guten Mutter das Herz lachte, wenn sie ihr liebes Kind die
Drösche wenden sah.
Lange hatte der Sohn des alten Burgherrn, ein junger Herr, der
jetzt die Jahre der Knappschaft angetreten hatte und mit Vergnügen der Zeit
entgegensahe, da er auf Abenteuer reisen sollte, die schöne Sylika, so war der
Name der Dirne, insgeheim bewundert und an manchem Abend das Fenster in dem
dicken Turm auf der Burg geöffnet, um sich an ihrer Stimme bei stiller
Abendzeit zu ergetzen. Oft hatte er schon seine gnädige Frau Mutter angelegen,
sie zu sich auf die Burg zu nehmen und im Perlensticken und Haarflechten
unterweisen zu lassen und dermaleinst ein geschicktes Hofmädgen, denn der Titel
Kammerjungfer war derozeit noch nicht üblich, daraus zu erziehen. Allein, da
die Eltern ihr einziges Kind nicht gern missen und noch weniger die Anerbin
ihres Hofes zu falschen Hoffnungen und gewissen Torheiten verwöhnet haben
wollten: so hatte der alte Burgherr, ein Mann, der zwar manchen Biedermann
ritterlich erschlagen und manchen Bürger gebrandschatzet, doch niemals einem
frommen Ackersmann das mindeste Leid zugefüget hatte, sich allezeit
dagegengesetzet, sooft sein Sohn den Beifall der gnädigen Frau Mutter
erschmeichelt hatte. Denn damals richtete sich der Haushalt noch nach den
Befehlen des Herrn.
Endlich aber wagte er es doch, den Gegenstand seiner
jugendlichen Wünsche, da er sie auf grüner Heide allein fand, um einen Kuß
anzusprechen, und vielleicht hätte sie ihm solchen in aller Unschuld nicht
verwehrt, wenigstens hat man nicht gehört, daß sie ein Gesicht dazu gemacht,
wenn nicht die Mutter, welche hinter der Hecke stand, aufs eifrigste ihrer
Tochter zugerufen hätte: «Kind, tue es nicht, es mögte eine Pflicht daraus
werden.»
Mutter und Tochter wußten damals noch nicht, was wir jetzt
wissen, daß ein Kuß, aus Pflicht gegeben, niemals so strenge als ein ander
Hofdienst gefordert werde. Ihr Wahn war also leicht und um soviel mehr zu
entschuldigen, da sie von Jugend auf in dem Glauben erzogen waren, daß
derjenige, der seinen Hof mit einer neuen Pflicht belüde, ewig auf demselben
spuken gehen müßte; ein Glaube, der ihnen jederzeit mehrere Dienste als alle
Gründe, womit die geringen Leute selten recht umzugehen wissen, geleistet
hatte.
Der junge Herr erbot sich indes gegen die Mutter bei
ritterlichen Ehren, ihrer Tochter den Kuß so insgeheim zu geben, daß niemals
ein Zeuge darüber geführet werden könnte. Er versprach in allem Ernst, weder
seinem Herrn Vater noch seiner Frau Mutter das mindeste davon zu sagen, und
versicherte, daß der Kuß solchergestalt niemals ins Lagerbuch3) geschrieben werden
sollte.
Allein die Mutter beharrete auf ihrem Sinn und meinte endlich:
sie müßte wenigstens vorher ihren Mann darüber zu Rate ziehen. Das Mädgen
allein sagte nichts; und man weiß auf diese Stunde nicht, ob sie nicht gern
gewünscht hätte, ihren Hof mit dieser Pflicht zu beladen.
Wie sie des Abends zu Hause kamen und einmütig beim Herde saßen,
erzählte die Mutter der Sylika ihrem Mann den ganzen Vorfall. Sie ließen beide
ihre Gedanken lange darüber gehen; endlich aber sagte der Alte, ein Mann von
vieler Erfahrung: «Die Sache betrifft nicht bloß mich, sondern alle zur Burg
gehörige Leute. Wenn der Gutsherr einmal das Recht hat, einen Kuß von unserm
Mädgen zu fordern, so wird er es mit der Zeit von allen begehren. Es ist also
am besten, ich trage es dem ganzen Hofe vor; und was dieser beschließt, das
soll geschehen.»
Früh, wie die Sonne aufging, eilte der Alte zum Meierhofe und
erhielt sogleich von dem Redemeier, daß eine Hofsprache angesaget wurde. «Ihr
Männer vom Hofe», fing hierauf der beredte Redemeier seine Rede gegen die
versammleten Hofesgenossen an, «ihr wißt, wie oft ich das Unglück beklagt habe,
daß alle unsre Pflichten jetzt nach dem Herkommen beurteilst werden. In den
ältesten Zeiten, wie ich von meinen Vorfahren gehöret habe, war es nicht also;
sondern die Genossen eines Hofes hatten alle nach ihrem unterschiedenen
Verhältnisse4)
einerlei Pflichten, welche auf einerTafel5), so hinter dem Altar hing,
beschrieben waren. Man wußte von keinem Lagerbuche und von keinem Besitze,
sondern richtete sich lediglich nach dieser öffentlichen und geheiligten
Urkunde. Und man sagt, daß im Anfange mit Fleiß die Pflichten in jedem Hofe
gleichförmig gemacht worden, um den geringen Mann gegen alle einzelne
Aufbürdungen zu versichern. Zu dieser Zeit machte man sich kein Bedenken
daraus, der gnädigen Herrschaft ein Fuder Weins aus dem Rheingau zu holen oder
ihr den Heerwagen bis auf die ronkalischen Gefilde zu fahren. Denn wir waren
durch jene öffentliche Urkunde sicher, daß alles dasjenige, was einer über die
durchgängig gleiche Pflicht leistete, in Ewigkeit eine Gefälligkeit bleiben
würde. Und wer von uns wollte sich auch noch weigern, einem so braven Herrn,
als unser alter Gutsherr ist, nicht alles aufzuopfern, was in seinem Vermögen
wäre, wenn es ohne Folge geschehen könnte? Allein, seitdem man angefangen hat,
lediglich darauf zu sehen, was der Gutsherr bei jedem hergebracht hat; seitdem
unsere Pflichten nicht mehr hinterm Altar in unser Bauerkirche, sondern in
Büchern beschrieben stehen, welche vor hundert Jahren niemand gekannt hat; seit
dieser Zeit, sage ich euch, hat sich das Unglück über uns arme hofhörige Leute
wie eine Flut ausgebreitet. Wir dürfen unserm Gutsherrn, so gern wir auch
wollten, nichts zu Gefallen tun; wir können seine Gnade durch unsern besten
Willen nicht verdienen; wir haben dagegen von ihm auch keine zu hoffen; und so
wird die natürliche Bewegung der Erkenntlichkeit in uns erstickt; wir müssen
alle Augenblick grobe Tölpel heißen und sind es vielleicht auch aus Notwendigkeit,
weil wir kein Ei bringen können, was nicht leicht angeschrieben wird. Es ist
also auch nicht ratsam, daß Eure Tochter dem jungen Herrn einen Kuß verstatte.
Denn wenn derselbe auch nicht angeschrieben und in Gegenwart einiger Zeugen
gegeben wird, so haben die verwünschten Rechtsgelehrten einen Eid erfunden,
womit sie uns armen Leuten gleich auf den Leib fallen. Das Mädgen kann den
empfangenen Kuß nicht abschweren; und dann heißt es, der Gutsherr ist im Besitz6); und Besitz
entscheidet jetzt alles, da doch ehedem weder der Besitz noch der Eid gegen die
öffentlich bekannten Hofesrechte zugelassen wurde. Ein anders wäre, wenn unsre
gnädige Herrschaft die Pflichten, welche aus jedem Hofe gehen, von neuen
öffentlich beschreiben und auf steinernen Tafeln in der Kirche wieder aufhängen
lassen wollte. Alsdenn mögten sie soviel Küsse, soviel Hühner und Eier
verlangen, als sie nur wollten. Mit Freuden sollten unsre Töchter sie
hinbringen; wir wollten ihnen dienen, sooft sie es nötig hätten; und sie würden
sich auch ihrerseits gegen uns mitleidig beweisen, wenn wir einmal nicht
imstande wären, unsre Pflicht zu leisten.»
Kaum hatte die versammelte Menge dem Redemeier ihren Beifall
gegeben: so ging der Vater der Sylika nach Hause, um seiner Frauen die Meinung
des Hofes bekanntzumachen; und diese brachte es durch ihre schöne Tochter
dahin, daß das Herkommen ganz abgeschaffet und die Tafel in der Kirche wieder
aufgehangen wurde.
Seitdem hat man zwar in dieser Gegend oft im Finstern einen Kuß
gehört, aber niemals geglaubt, daß es eine Spukerei der Sylika sei; und ihre
Nachkommen wissen es ihr noch jetzt Dank, daß keine Mutter über die Hecke rufen
könne: «Tue es nicht, es wird eine Pflicht daraus.»
1 So wird der
Versammlungstag der hofhörigen Leute im Stifte Osnabrück genannt.
2 Sundern ist ein
beträchtliches Gehölz, was in Absicht der Viehweide offen oder gemein, aber was
das Holz betrifft, davon gesondert oder einem Herrn zuständig ist.
3 Mit den gutsherrlichen Flur-
oder Lagerbüchern, welche gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode
wurden und wozu in dem gegenwärtigen schön groß Papier genommen worden, ist es
eine eigne Sache: Ich getraue mir zu sagen, daß kein einziges richtig sein
könne; weil man zur Zeit, wie sie aufkamen, z.E. sagte: Rindgeld,
Schweinegeld, Dienstgeld, und kein Gutsherr dieses zu Buche schreiben
konnte, ohne sich mit seiner eignen Hand zu schlagen, gleichwohl aber auch ohne
Verletzung seines Pflichtigen nicht schreiben durfte: Ein Rind oder dafür 4
Taler, ein Schwein oder dafür 2 Taler, ein wöchentlicher Spanndienst oder dafür
10 Taler. Jeder setze sich hier an die Stelle des Gutsherrn und schreibe und
sehe dann zu, ob er nicht seine eigne Auslegung für dieWahrheit niederschreibe.
Ganz anders verhält es sich mit dem Beweise durch langjährige Register. Diese
bezeugen lediglich das factum vel praestitum, und die Auslegung
schleicht sich auch so leicht nicht ein, oder man achtet nicht darauf. Der L.
7. c. de probat., nach welchem es für die gemeine Freiheit schädlich
gehalten wird, daß ein Mann den andere zu seinem Schuldner schreiben kann, ist
für die ganze Menschheit wichtig.
4 Dieses war das
sicherste Mittel, den Bauern gegen die Aufbürdung neuer Pflichten zu sichern. Aliqui
nostrorum solvunt Vullschuld; aliqui dimidia debita, quae vulgariter vocantur
Halfschuld: heißt es in verschiedenen alten Urkunden. Hier wird die Schuld
als eine sichere einförmige und bekannte Sache vorausgesetzt; und ein Monarch,
der die Pflichten in jedem Dorfe einförmig machte, würde das gemeine Eigentum
auf ewig versichern und vielen Prozessen dabei zuvorkommen.
5 Die Tafeln in den
Kirchen, worauf die Pflichten der Gerichtsuntertanen beschrieben waren, waren
ehedem häufig; und man muß die alten Deutschen bewundern, welche die Erfahrung
zu dieser Vorsicht geleitet hat.
6 Der Besitz ist immer
das arme elende Notmittel, worauf die römischen Rechtsgelehrten verfallen, wenn
sie sich um die vaterländischen Rechte nicht bekümmern; es ist aber auch ein
gefährliches Mittel, besonders wo der Eid einzelnen Leuten angetragen werden
kann. Dieses ist wiederum ein unverzeihlicher Fehler unsrer Praxis. Einem
einzelnen Manne, der zu einer Gilde oder einem Hofe gehört, muß nie über Gilde-
oder Hofesgerechtsame der Eid angetragen werden können, sondern er muß der
ganzen Gilde deferiert werden, die sich per Syndicum verteidigt und die Männer
selbst stellet, deren Eid hiernächst für alle verbindlich sein soll.