Der Ausweg. Die Bekenntnisse des Morphinisten Martin M. (1961)
 
 

Textauszug

Ein paar Tage später begannen sie mit Martins dritter Entziehungskur. Sie hatten alle Einzel-heiten ausführlich besprochen. [...]
Er ging nicht dabei zugrunde, und Liza auch nicht. Aber leben konnte man es auch nicht nen-nen – in diesen nächsten achtundvierzig Stunden. Manchmal erwachte er aus einem erschöp-fenden Halbschlaf und benahm sich wie ein tobender Irrer. Er rannte mit dem Kopf gegen die Wände, einmal, hundertmal. Als sie ihn aufzuhalten versuchte, schlug er sie ins Gesicht und auf die Brust. Und sogar, wenn er dann später in absoluter Erschöpfung auf sein Bett zurück-fiel, gaben seine Nerven kein Pardon; keine Sekunde fand der gequälte Körper Ruhe. Er konn-te nie aufhören mit dem Zucken, Wälzen, Zittern, Stöhnen, Murmeln – Stunde um Stunde, bis er wieder erwachte, gellend schrie, aufsprang und tobte. Er schrie wilde, sinnlose Obszönitä-ten, als ob die Untiefen seiner Seele an die Oberfläche gekommen wären. Und mit einem schlauen, widerlichen Grinsen sprach er über vulgäre Schamlosigkeiten mit anderen Frauen. Unzählige Male beschmutzte er sein Bett, und Liza machte es wieder sauber. Immer wenn sie ihm mehr Kapseln gab, um ihn zum Schlafen zu bringen, fing er an zu delirieren; und wenn sie die Medikation unterbrach, erwachte er so weit, daß er die Qualen spürte – und sie konnte es nicht mehr ertragen, sie anzusehen. (S. 165-168)

Es war in einer kalten Nacht Ende Januar, als Martin plötzlich wußte, daß die Polizei hinter ihm her war. Um halb zwölf mußte er im Hotel sein. Es war nun kurz nach zehn, und es hatte noch nicht geklappt. Er war hoch oben im Norden der Bronx. In der Apotheke, in der er eben gewesen war, hatte der Angestellte ihm gesagt, daß er ein paar Minuten warten sollte. „Unge-fähr eine Viertelstunde wird es dauern“, hatte er gesagt – und er hatte Martin auf merkwürdige Weise angesehen, als wolle er sich sein Aussehen genau einprägen, neugierig und wachsam. Martin wußte sofort, daß der Apotheker die Polizei angerufen hatte; vielleicht hatte man den Apotheken seine Personalbeschreibung durchgegeben, so etwas kam vor – und nun raste be-reits ein Streifenwagen mit Polizisten durch die Nacht, die ihn auf frischer Tat zu erwischen hofften.
Martin antwortete ruhig, er müsse noch etwas besorgen, er werde in einer halben Stunde zu-rück sein. Der Mann versuchte ungeschickt, ihn zurückzuhalten. „Vielleicht kann ich es schneller fertigmachen“, sagte er, „in zehn Minuten oder sogar fünf . . .“, aber Martin murmel-te, er könne jetzt nicht warten. Einen Augenblick sogar schien der Apotheker zu überlegen, ob er ihn mit Gewalt festhalten oder die Tür verschließen könne, aber er war ein alter Mann, und warum sollte er sich Unannehmlichkeiten machen? Er ließ Martin gehen.
Martin kannte die Gegend nicht, und es regnete. Es blieb ihm wenig mehr als eine Stunde, um sich etwas zu besorgen – und er mußte es haben, oder er konnte nicht zur Arbeit gehen, was bedeutete, daß man ihn entlassen würde. Wie sollte er die Nacht überstehen? (S. 229)

„Du wagtest es nicht, mit einer Frau zu schlafen. Du hattest Angst, daß sie dich auslachen könnte. Warum hattest du Angst?“
„Ich wollte es dir schon lange sagen. Ich habe dir erzählt, daß ich einen Nierenschuß bekam, damals in Spanien, und daß ich deswegen im Krankenhaus lag. Das alles war nicht wahr . . .“
„Wenn es dir wichtig genug war, deswegen so verdammt viel zu lügen – so viel zu lügen, daß du nachher selbst daran glaubtest, dann mußt du einen verteufelt wichtigen Grund gehabt ha-ben . . .“
„Ich habe nicht zu meinem Vergnügen gelogen. Über das, was wirklich geschah, konnte ich nicht sprechen. Ich wollte es vergessen. Ich wollte nicht daran denken. Ich steckte meinem Kopf in den Sand – und ich vergaß, was wirklich gewesen war. Ich erfand die Geschichte mit meinem Nieren, als ich zuerst mit dir darüber sprach, und dann erzählte ich Dr. Walker die-selbe Geschichte und dann Liza. – Ich belog erst die anderen – und dann glaubte ich selbst an meine Geschichte . . .“
„Niemand lügt auf diese Art, wenn es nicht einen zwingenden Grund gibt, eine Notwendig-keit. Du hast gelogen, weil die Erinnerung an das, was wirklich geschah, zu schmerzhaft war. Du hast gelogen, weil dein Unterbewußtsein – das gekränkte und beleidigte – es verlangte, und so hast du gehorcht. Nun aber ist die Wahrheit aus der Tiefe emporgestiegen in dein Be-wußtsein. Und nun kannst du dich mit Verstand und Vernunft damit auseinandersetzen. Willst du mir jetzt die Wahrheit sagen, über das, was damals mit dir geschah?“
„Ja“, sagte Martin. (S. 293)
 

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